Cover
Titel
Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961


Autor(en)
Ruhkopf, Jan
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Scholz, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Als der kürzlich leider verstorbene Jan Plamper 2019 in seinem Buch „Das neue Wir“ für ein neues deutsches Selbstverständnis plädierte, das unterschiedliche Herkunftskulturen und Partikularidentitäten wertschätzen sollte, verwies er beispielhaft auf die bundesdeutsche Integration der deutschen Vertriebenen in den 1950er-Jahren. Damals habe eine progressive Politik die Deutschen aus dem östlichen Europa mit ihren kulturellen Besonderheiten „unter dem Dach der bundesrepublikanischen Nationalidentität“ anerkannt und diese sogar staatlich gefördert.1 Zugunsten des Modellcharakters für die Gegenwart ging Plamper dabei über die völkisch-nationale Exklusivität ebenso hinweg wie über die revisionspolitischen Fernziele dieser Politik, die den Begriff „Integration“ tunlichst vermied und stattdessen das Konzept der „Eingliederung“ entwickelte und verfolgte.

„Eingliederung als Voraussetzung zur Rückkehr“, wie eine in den 1950er-Jahren oftmals wiederholte Formel lautete, die im Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt) geprägt worden war, bildete das „Kernprogramm“ (S. 398) dieses in der Bundesregierung dafür zuständigen Ministeriums. Mit dem BMVt, seinem politischen Handeln und den von ihm zugrunde gelegten Ordnungskonzepten hat sich Jan Ruhkopf in seiner nun als Buch erschienenen Dissertation beschäftigt, die er am Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes zum BMVt erarbeitet hat. Auch in der Retrospektive bildet das Eingliederungskonzept nach Ruhkopf den „Schlüssel, um das Wirken des BMVt einzuordnen und historisieren zu können“ (S. 21).

Wie in der Forschung bereits mehrfach gezeigt worden ist, war die Politik der Eingliederung nur partiell auf eine dauerhafte Integration der Vertriebenen im Westen gerichtet.2 Gerade die Aufrechterhaltung und Forcierung kultureller Besonderheiten sollte die Eigenidentität der verschiedenen deutschen „Volksgruppen“ bewahren oder auch erst konstruieren. Damit sollte ihre „Returnability“3, also die Fähigkeit und Bereitschaft zur Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete, erhalten und auch von ihnen erwünscht bleiben. Die gleichzeitig stattfindende Politik der sozialen und ökonomischen Integration wurde insbesondere von dem Soziologen Eugen Lemberg mit der Erhaltung der „Heimatfähigkeit“ der Vertriebenen begründet, also mit der Fähigkeit – die auch bei einer späteren Rückkehr erforderlich sein würde –, sich in einer neuen Umgebung schnell „beheimaten“ zu können. Zugleich galt eine soziale Integration aber auch deshalb als notwendig, um die Gefahr einer gesellschaftlichen und politischen Destabilisierung der Bundesrepublik abzuwenden. Im „Spannungsfeld von Integrationsgebot und Rückkehrerwartung“ (S. 282) wurde eine stabilisierte Gesellschaft im Westen als Voraussetzung für die Rückkehr nach Osten betrachtet.

Dieses Prinzip der gesellschaftlichen Stabilisierung durch Integration bildete nach Ruhkopf den Kern für das politische Handeln des BMVt. Schon früh habe sich das Ministerium von den damit verbundenen revisionistischen Fernzielen gelöst und diese anscheinend nur noch rhetorisch verfolgt. Der Autor bestätigt damit den zeitgenössischen Vorwurf des Politikers und Publizisten Max Hildebert Boehm gegenüber dem BMVt, es agiere mit dem Eingliederungskonzept trotz seines revisionistischen Bekenntnisses faktisch antirevisionistisch. Laut Ruhkopf konzentrierte sich das BMVt vornehmlich auf die gesellschaftsstabilisierende Wirkung der Eingliederungspolitik, weil diese im Ost-West-Konflikt als ein antikommunistisches Ordnungskonzept betrachtet worden sei. Als ein solches sei sie auch dem westlichen Ausland präsentiert worden, wo das BMVt im Prozess der Westintegration um finanzielle Unterstützung für die bundesdeutsche Eingliederungspolitik warb.

Ausführlich analysiert Ruhkopf die personellen und institutionellen Netzwerke, die in der Auslandsarbeit des BMVt entwickelt und genutzt wurden, wobei deren Relevanz neben der Politik des Auswärtigen Amtes allerdings immer etwas fraglich bleibt. Diese Schwerpunktsetzung der Arbeit scheint nicht zuletzt aus der Quellenlage zu resultieren, da der dienstliche und der private Nachlass des für die Auslandsarbeit zuständigen Abteilungsleiters Werner Middelmann zur Verfügung stand, der auch in anderen Abschnitten immer wieder herangezogen wird. Wie Ruhkopf zeigt, handelte es sich bei Middelmann allerdings um einen Außenseiter innerhalb des Ministeriums, weil er anders als der Großteil der Mitarbeitenden weder Vertriebener noch NS-belastet war. International zudem gut vernetzt, war er für die Auslandsarbeit bestens geeignet, setzte hier die Akzente aber vielleicht auch etwas anders als es das BMVt in der innenpolitischen Arbeit tat.

Im Gegensatz zum Wirken und zur Positionierung Middelmanns bleiben weitere, allerdings erheblich wichtigere Akteure im BMVt, wie die Minister Hans Lukaschek und Theodor Oberländer oder der langjährige Staatssekretär Peter Paul Nahm, wegen der schlechteren Quellenlage in ihrer Tätigkeit sehr viel undeutlicher. Vielleicht wirken aus diesem Grund auch einige Betätigungsfelder und Schwerpunktsetzungen des Ministeriums eher unterbelichtet (siehe unten).

Neben der Auslandsarbeit bildet die Wissenschaftspolitik des BMVt den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches. Hier kann Ruhkopf insbesondere die konzeptionellen Traditionen der Weimarer Grenzlandforschung, der Volks- und Kulturbodenforschung und der Ostforschung vor allem anhand der Visualisierungs- und Beschreibungspraktiken nachweisen sowie die personellen Kontinuitäten aus den Bevölkerungswissenschaften und der Raumordnungspolitik rekonstruieren, die sich auch konzeptionell bei der Förderung von Großforschungsprojekten auswirkten. Kürzer behandelt werden die Medienpolitik des BMVt sowie seine Politik gegenüber weiteren Gruppen von „Kriegsgeschädigten“ jenseits der Vertriebenen, für die das Ministerium ebenfalls zuständig war: aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Wehrmachtssoldaten, Luftkriegsevakuierte und durch die Währungsreform Geschädigte, aber auch ausländische (nichtjüdische) Displaced Persons. Für letztere galt ebenfalls das Konzept der Eingliederung, das die zukünftige Rückkehr in ihre Herkunftsländer durch Erhaltung der nationalen Eigenart ermöglichen sollte – insbesondere durch Förderung ihrer kulturellen Identität.

Die Kulturförderung jedoch, die ein zentrales Arbeitsfeld des BMVt war, bleibt mit Ausnahme der Wissenschaftspolitik im Hinblick auf die Vertriebenen leider generell ausgeblendet. Dies gilt auch für die federführende Rolle des Ministeriums bei der Abfassung des Bundesvertriebenengesetzes von 1953, das in seinem „Kulturparagrafen“ 96 nicht nur die Wissenschaftsförderung rechtlich verankerte, sondern zum Beispiel auch die institutionelle Förderung von Verbänden und Kultureinrichtungen, Heimatsammlungen und -museen, kommunalen Patenschaften mit Heimatgemeinschaften und nicht zuletzt der schulischen Ostkunde.4 Alle diese Politikfelder des BMVt werden ohne Begründung nicht behandelt, obwohl (oder weil?) gerade sie als wichtig für die Vorbereitung zur Rückkehr galten.

Die genannte Leerstelle erhärtet den sich beim Lesen generell einstellenden Eindruck, dass es dem BMVt vornehmlich um die Integration der Vertriebenen zur Stabilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft, aber nicht um „heimatpolitische“ Fragen oder revisionistische Ziele gegangen sei. Diese zweifelhafte Deutung des politischen Handelns des Ministeriums ist aber nur möglich, weil zum einen zentrale Arbeitsfelder, wie zum Beispiel auch das Großforschungsprojekt der achtbändigen Ost-Dokumentation, für die die Federführung beim BMVt lag5, nicht behandelt werden, und zum anderen der Untersuchungszeitraum schon 1961 endet, obwohl das Ministerium noch bis 1969 existierte. Diese zeitliche Begrenzung der Studie mag arbeitspragmatische Gründe gehabt haben oder mit dem Ende des Nachlasses von Werner Middelmann aufgrund seines Ausscheidens aus dem Dienst im Jahr 1961 zusammenhängen. Ruhkopf begründet sie aber damit, dass Anfang der 1960er-Jahre die Eingliederungspolitik so weit zu stabilen Verhältnissen beigetragen habe, dass die „existenzbegründende ‚staatspolitische und soziale Aufgabe‘ [des BMVt], zur friedlichen Lösung der Vertriebenenproblematik beizutragen“, nun entfallen und das Ministerium daher bereits zu diesem Zeitpunkt eigentlich überflüssig geworden sei (S. 44f.). Die weiterhin betriebenen „Aktivitäten auf der ‚geistig-kulturelle[n] Seite‘ der Eingliederungspolitik, um die ethnisch-kulturell verstandene Identität der Vertriebenen aufrechtzuerhalten“ (ebd.), gelten in dieser Perspektive als wenig relevant, weil „eine tatsächliche Rückkehr ja immer illusionärer“ geworden sei (S. 45). Ob und inwieweit die Eingliederungspolitik den Integrationsprozess gefördert oder aber behindert hat, bleibt daher unklar.

Die Ausblendung der Tätigkeit des BMVt in den 1960er-Jahren ebenso wie die Vernachlässigung der Kulturpolitik als zentralem Politikfeld verringert leider auch die Möglichkeiten des Vergleichs mit anderen in diesem Bereich agierenden Bundesministerien (wie dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen), den Bundesländern und den Vertriebenenverbänden, zu denen es bereits Forschungsarbeiten gibt, die allesamt diesen Zeitraum mit umfassen.6 Das Verhältnis zu solchen und anderen Akteuren sowie organisationsgeschichtliche Fragen sind weiteren Teilprojekten des Tübinger Gesamtforschungsprojektes vorbehalten, deren Publikation noch aussteht.7 Es bleibt zu hoffen, dass sie in der Zusammenschau mit der vorliegenden Studie ein noch schärferes Gesamtbild des Bundesvertriebenenministeriums zeichnen können.

Anmerkungen:
1 Jan Plamper, Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt am Main 2019, S. 88.
2 Vgl. z.B. Volker Ackermann, Integration: Begriff, Leitbilder, Problem, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Neue Heimat im Westen. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler, Münster 1990, S. 14–36, hier S. 17–22; Karin Böke, Flüchtlinge und Vertriebene zwischen dem Recht auf die alte Heimat und der Eingliederung in die neue Heimat. Leitvokabeln der Flüchtlingspolitik, in: dies. / Frank Liedtke / Martin Wengeler, Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära, Berlin 1996, S. 131–210, hier S. 196, S. 204f.
3 Zur Prägung dieses Begriffs in einem anderen migrationswissenschaftlichen Zusammenhang vgl. Inken Bartels / Simon Sperling, Erzwungene Freiwilligkeit. Zur Produktion von Returnability im europäischen Grenzregime des 21. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 20 (2023), S. 113–140, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6107 (13.12.2023).
4 Zu einigen dieser Bereiche liegen bereits wichtige Studien vor, die auch auf die Rolle des BMVt eingehen, aber von Ruhkopf leider nicht berücksichtigt wurden; z.B. Cornelia Eisler, Verwaltete Erinnerung – symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, München 2015, S. 238–271; Britta Weichers, Der deutsche Osten in der Schule. Institutionalisierung und Konzeption der Ostkunde in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren, Frankfurt am Main 2013, S. 163–183.
5 Diese hat Mathias Beer bereits in mehreren Publikationen behandelt; vgl. z.B. ders., Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 345–389, https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1998_3_1_beer.pdf (13.12.2023).
6 Vgl. Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969, Düsseldorf 2008; Christian Lotz, Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972), Köln 2007; Karin Pohl, Zwischen Integration und Isolation. Zur kulturellen Dimension der Vertriebenenpolitik in Bayern (1945–1975), München 2009; Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004.
7 Zum Rahmenkonzept und den Teilprojekten vgl. https://www.geschichte-vertriebenenministerium.de/projekt/ein-sonderministerium-klassischem-gewand (13.12.2023).